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Ergänzungen und Informationen
zu dem Vortrag

»Hilfe für Menschen
mit pädophilen Empfindungen«

Dr. Frans Gieles

Paris, Juni 2001

Inhaltsverzeichnis 

Worüber reden wir eigentlich?

Und was ist mit der Gewalt?

Perversion, Devianz,... Sündenböcke?

Die schädlichen Folgen

Wissenschaft und Moral

Die Aufgabe des Klinikers

Ethik

 

Worüber reden wir eigentlich?

Ich rede von Menschen mit pädophilen Empfindungen, nicht von »Pädophilen« oder über »Pädophilie«. Dafür habe ich Gründe.

Erstens kann man einem Menschen mit pädophilen Empfindungen nicht einfach eine pädophile Identität zuschreiben. Dies zu entscheiden ist seine Sache. Seine Gefühle können auch Teil einer wesentlich umfassenderen und reicheren Identität sein.

Zweitens sind »Pädophile« und »Pädophilie« selbst unklare und sehr unterschiedlich gebrauchte Begriffe. Ursprünglich meinten sie »jemanden, der ein Kind liebt«. Dann kam eine erotische oder sexuelle Konnotation ins Spiel: »jemand, der eine erotische Anziehung Kindern gegenüber verspürt.« Dies ist soweit eine korrekte Definition. 

Nun hat die Bedeutung sich im Laufe der Jahre weiter verändert. Für die meisten Menschen heutzutage hat sie sich von Empfindungen in Richtung auf insbesondere sexuelle Handlungen eines Erwachsenen mit einem Kind verschoben. Damit wird der Begriff aber unklar, zu einem Behälter für alles Mögliche und also unbrauchbar. Zudem wurde immer hinzugefügt, daß dies falsch und krank und schlecht sei, womit sich der Begriff von einem, der Tatsachen bezeichnen sollte, zu einem wandelte, der moralische Bewertungen transportierte. 

Nach meiner bescheidenen Meinung ist es weder dem Wissenschaftler noch dem Kliniker möglich, mit derart unklaren, vagen und moralisierenden Begriffen etwas anzufangen. Mehr habe ich dazu in meinem Vortrag über Pädophilie als Begriff gesagt.

Aus den beiden oben genannten Gründen möchte ich zurück zu den Tatsachen. Ich stelle fest, daß es Menschen mit pädophilen Gefühlen gibt. Was sie damit dann tun, ihre Handlungen, wird vom einen zum anderen unterschiedlich sein. Wir werden sie nicht richten und verurteilen wegen ihrer Gefühle allein. Nur ihre Taten können abgeurteilt werden. Dies -- Menschen mit pädophilen Empfindungen -- ist also ein brauchbarer Begriff, nicht zu breit und nicht moralisierend.

Meistens benutzt man heute die Definition des Handbuches DSM-IVR. Darin wird Pädophilie als eine Paraphilie beschrieben. Paraphilien sind »durch wiederkehrende intensive sexuelle Wünsche (urges), Phantasien oder Verhaltensweisen charakterisiert, die ungewöhnliche Objekte, Tätigkeiten oder Gelegenheiten beinhalten und die klinisch relevante Störungen oder Behinderungen in sozialen, berufs- oder sonstigen wichtigen Funktionsbereichen zur Folge haben.« 
Weder »Behinderung« noch »ungewöhnlich« sind wohldefiniert, ihre Bedeutungen hängen von Zeit und Gegend ab. Wie Sie sich erinnern werden, wurde vormals Homosexualität in diesem Handbuch als eine Perversion definiert. Dergleichen ist ein Urteil, keine Beschreibung. DSM spricht in diesem Zusammenhang auch von »Opfern«, was auch zeigt, daß von einem moralischen Standpunkt ausgegangen wurde.

Und was ist mit der Gewalt?

Möchte man weiterhin von »Pädophilie« sprechen, so sollte man sie definieren. Die meisten Sexualwissenschaftler werden sich auf DSM-IVR, wie oben angeführt, beziehen. Sprechen sie damit auch von Gewalt? Nicht, wenn sie sich auf diese Definition beziehen. Dort ist die Rede von »erregenden Phantasien, drängenden sexuellen Wünschen, oder sexuellen Verhaltensweisen«. Also Phantasien oder Verhaltensweisen. Weiter heißt es: »Individuen mit Pädophilie, die Ihre Wünsche ausleben, beschränken sich vielleicht darauf, das Kind oder sich selbst auszuziehen, in seiner Gegenwart zu masturbieren oder es sanft zu berühren und zu streicheln. Andere aber [...] benutzen dabei unterschiedliche Grade von Zwang.« 
Manche.... Andere aber...  Also, ...Gewalt ist folglich dem Begriff nicht inhärent.

Nun blicken sie einmal auf den Prospekt, mit dem dieser Kongreß beworben wurde. Da lesen wir von einer Veranstaltung unter dem Titel: »Gewalt und Sex (Gewalt, Pädophilie, Vergewaltigung)«. So wirft der Prospekt selbst die Frage auf: »Ist Pädophilie Gewalt?«

Tom O'CARROLL hat diese Fragestellung aufgenommen und unter dem Titel »Ist Pädophilie Gewalt?« in einem Aufsatz bearbeitet. In der Zusammenfassung heißt es dort: »Dieser Aufsatz stellt die Richtigkeit der Auffassung in Frage, daß Pädophilie[...] als Gewalt aufgefaßt werden kann. Die Literatur über Aspekte der pädophilen Persönlichkeit und ihres Verhaltens wurde vor allem mit Bezug auf Neigungs-, im Gegensatz zur opportunistischen, Pädophilie untersucht. Hinweise auf Schäden, wie sie herkömmlich sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern als Folge zugeschrieben werden, werden genauso im Lichte neuerer Forschung betrachtet wie die Haltbarkeit und Brauchbarkeit des Begriffes der kindlichen »Zustimmung«. Die unwissenschaftliche Zuschreibung von Gewaltsamkeit als quasi inhärenter Charakteristik der Pädophilie wird vor dem Hintergrund feministischer Analysen des vorgeblichen Machtungleichgewichtes in persönlichen Beziehungen kritisiert.«

Der Programmausschuß diese Kongresses freilich hat diese Arbeit abgelehnt. Sie sollten sie nicht kennenlernen, aber hier ist sie doch.

Perversion, Devianz,... Sündenböcke?

Was sehen wir in unseren Klienten, den Menschen mit pädophilen Empfindungen? Unsere Sichtweise wird einen Einfluß auf unser Tun haben.

Sehen wir Perversion oder Krankheit, so werden wir sie zu heilen suchen. Vor allem dann natürlich, wenn wir einen moralischen Grund dafür zu haben glauben. Dies ist von Therapeuten versucht worden, die aus diesem Grund Schwule oder Lesbierinnen behandelt haben, um sie »aus der Krankheit zur Gesundheit« zu bringen, also aus der Homosexualität in die Heterosexualität. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß man von Erfolg, und selbst den bezweifeln die Verfasser, nur bei 6 aus 202 Fällen reden kann.

Genauso wie dies für homosexuelle Wünsche gilt, ist es keine Perversion per se, pädophile Wünsche zu haben. In meinem Vortrag habe ich auf die Arbeit von Nagayama, Hall, Hirschman & Oliver hingewiesen, wo mehr als 25 % ihrer Stichprobe normaler Männer auf »pädophile Stimuli« reagierten. Liest man den Aufsatz nach, so stellt man fest, daß sie nur weibliche pädophile Stimuli den Männern zeigten; hätten sie auch Jungen verwandt, so wäre der Anteil der Reaktionen noch größer gewesen. Hätten sie auch Frauen untersucht, so wäre vielleicht der Anteil noch größer geworden. Ich schätze ihn auf ein Drittel der erwachsenen Gesamtbevölkerung. Man kann nicht sagen, daß ein Drittel der Bevölkerung ohne sonstige Störungen pervers sei. Tatsächlich kann man bei einem Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel kaum von Abweichung reden, eher von normaler Variation.

»Beinhaltet Pädophilie perverse sexuelle Begierden? Darauf kann man nur schwer eine eindeutige und allgemeingültige Antwort geben, vor allem, weil es unterschiedliche Formen der Pädophilie gibt«, schreiben die niederländischen Erziehungswissenschaftler Ben Spiecker und Jan Steutel. Sie kommen zu dem Schluß, daß es »falsch wäre, alle Formen der Pädophilie pervers zu nennen. Pädophiler Sex ist eine Form der Ausbeutung, weil er das langfristige Wohl des Kindes gefährdet. Folglich richtet sich das pädophile Begehren auf etwas Unmoralisches, aber nur in einigen Formen der Pädophilie ist dieses Begehren pervers.«

Ich sehe meine Klienten mit zwei Augen: mit denen des Klinikers, der ihnen helfen will, und um dies so gut wie möglich zu können, brauche ich auch mein zweites Paar Augen, die des Wissenschaftlers. Als Kliniker bin ich kein Moralist. Als Wissenschaftler bin ich genauso wenig ein Moralist. Ich sehe die Tatsachen, und eine davon ist, daß meine Klienten um Hilfe bitten, weil sie mit gewissen Gefühlen kämpfen. Weder dem Kliniker noch dem Wissenschaftler ist es aufgetragen, seine Klienten wegen ihrer Gefühle zu verdammen. Zu den Tatsachen, die ich beobachten kann, gehört auch, daß die Mitglieder von Selbsthilfegruppen unter sich einen moralischen Leitfaden ausgearbeitet haben. Als jemand, der selber in solchen Gruppen aktiv ist, aber auch als Mitmensch, habe ich auch Meinungen zu solchen Themen und kann versuchen, sie in die Diskussion einzubringen. Aber ich werde nie jemanden wegen seiner Gefühle moralisch verdammen.

Dies gilt umso mehr, als ich als Kliniker und Wissenschaftler kein Polizist, Staatsanwalt oder Richter bin. Wie gesagt, niemand kann wegen seiner Gefühle alleine bestraft werden, nur wegen seiner Taten. Würden wir uns die juristische Betrachtungsweise zu eigen machen, so würden wir Merkwürdiges feststellen: daß die nämliche Tat in einem Land ein Verbrechen ist, aber nicht in einem andren, daß sie zu einem Zeitpunkt strafbar ist, zu einem anderen aber nicht. Eine Handlung mag am 15. Mai ein Verbrechen sein, wenn Johnny fünfzehn Jahre alt ist (oder in anderen Ländern 17), und nicht mehr am 16. Mai, wenn er 16 (oder 18) Jahre alt ist. Das mag für die Rechtspflege angemessen ein, für die Kliniker und Wissenschaftler ist dies nicht der Fall.

Der Kliniker und der Wissenschaftler haben beide davon auszugehen, wie der Klient selbst seine Gefühle, Wünsche, Taten zu verstehen sucht. Wie z.B. VAN NAERSSEN zeigt, variieren diese Auffassungen der Klienten ganz gewaltig, und davon sollten wir bei unserer Arbeit ausgehen, um dem Klienten helfen zu können.

Es ist noch ein Gesichtpunkt wichtig: der soziologische. Die Klienten leben ja nicht für sich alleine, sondern in einer Gesellschaft. Wenn sie also sagen, sie kämpfen mit ihren pädophilen Gefühlen und Wünschen, dann ist es nicht nur ihr Innerstes alleine, das da spricht. Sie sprechen und kämpfen als Teil dieser Gesellschaft. Wir können nicht die Augen davor verschließen, was heute dort draußen im Hinblick auf Menschen mit pädophilen Empfindungen vor sich geht. Ich verzichte darauf, ins Detail zu gehen oder Belege anzuführen, da jeder dies weiß. Nach meiner Auffassung handelt es sich heute um einen Konstruktions-Prozeß für Sündenböcke; nebenbei: Projektion und die Konstruktion von Sündenböcken sind wohlbekannte psycho-soziale Verzerrungen. Nachdem die Kommunisten und Homosexuellen als Sündenböcke ausgefallen sind, bleiben die »Pädophilen« als leichtes Ziel für die Verfolgung durch die sogenannten normalen Menschen übrig.

Worüber sprechen wir also? In meiner Sicht nicht über eine Perversion, und kaum über abweichendes Verhalten. Soweit es sich um Gefühle und Wünsche handelt, auch sicher nicht über Kriminalität. Wir reden über eine normale Variation in der Bevölkerung, die heute einer ziemlich heftigen Verfolgung ausgesetzt ist. Und wir reden nicht als Polizisten oder Staatsanwälte, sondern als Wissenschaftler und Kliniker. Wir wollen verstehen, was in Menschen mit pädophilen Empfindungen vor sich geht (und in der Gesellschaft), und ihnen helfen.

Dies ist der Standpunkt hinter der Selbsthilfemethode. Diese hat das Ziel, die Menschen zur Annahme ihrer Gefühle als ein Teil ihrer selbst zu bringen.

Sehen sie z.B., wie auf der Web-site von Dr. Pelo die FAQs beantwortet werden, oder wie eine religiöse Gemeinschaft auf der Web-site von Baumstark Hilfe anzubieten versucht. Sehen Sie auch Sandfort's Artikel mit Constructive questions.

Vergleichen Sie bitte mit dem, was Heather Elizabeth Peterson von Julius zitiert, der sagt: »Ich habe viel über Jungenliebhaber gelesen, deren Therapie sie nur gelehrt hat, ihre Neigungen und sich selbst zu hassen und ihre Liebesfähigkeit zu zerstören. Sie brauchten Jahre, um ihr Selbstbewußtsein und ihre Liebesfähigkeit wieder aufzubauen.«

Die schädlichen Folgen

Wären sexuelle Erfahrungen von Kindern mit Erwachsenen immer schädlich, so würde es schwierig sein, die Selbsthilfemethode zu vertreten. Aber Schäden sind nicht unvermeidlich. Rind, Tromovitch und Bauserman haben eine Meta-Analyse veröffentlicht, in der sie 59 Studien verglichen haben, die anhand von College-Stichproben durchgeführt worden waren. Sie fanden, daß durchschnittlich etwa 25% der Vorfallen  bleibende Schäden berichteten, Mädchen mehr dann Jungen. Familiale Faktoren konnten übrigens die beobachteten Probleme neunmal so gut erklären als sexuelle Erfahrungen.

Also müssen diejenigen, die sagen: »Es ist immer unschädlich!«, ihre Meinung ändern, aber ebenso auch diejenigen, die sagten: »Es ist immer schädlich!«

Weil so oft gesagt wurde: »Es ist immer schädlich«, hat der Aufsatz von Rind et al. großes Aufsehen erregt. Viele Leute konnten oder wollten dieses Ergebnis nicht glauben, viele Artikel wurden über diese Untersuchungen geschrieben. Selbst der US-Kongreß hat sie verurteilt.

Ich will all dies hier nicht wiederholen. Ich habe einen Überblick vorbereitet und eine Auswahl von Arbeiten auf der CD-Rom und Web-site zur Verfügung gestellt. Ich vermute, daß die ehrenwerten Abgeordneten des US-Kongresses die Arbeit, die sie verdammten, gar nicht gelesen hatten. Ich lade Sie ein, die Meta-Analyse und die Erläuterungen und Kommentare selbst zu lesen und sich dann ein Urteil zu bilden.

Hier möchte ich nur kurz wiederholen, was ich anderswo, in meinem Aufsatz Science and Morality über die jeweiligen Rollen von Wissenschaft, Presse und Politik gesagt habe. Dann komme ich zur Aufgabe des Klinikers.

Wissenschaft und Moral

»Die Wissenschaft hat die Aufgabe, die Tatsachen zu finden, dies ist ihr Recht und ihre Pflicht; die Presse soll die Öffentlichkeit richtig informieren, die Politiker sollen die Entscheidungsfindung in moralischen Fragen korrekt leiten.

Die Wissenschaft kann uns lehren, daß es gesund ist, Fleisch zu essen, die Menschen können sich aber aus moralischen Gründen entscheiden, kein Fleisch zu essen. Die Wissenschaft kann uns lehren, daß Alkohol zu trinken gefährlich ist, die Menschen können sich aber gegenseitig den Alkoholgenuß erlauben. Die Wissenschaft kann uns lehren, daß der Genuß von Cannabis in kleinen Mengen ungefährlich ist, und die Menschen können den Genuß oder den Besitz auch nur kleiner Mengen mit drakonischen Strafen belegen. Die Wissenschaft stellt uns die Tatsachen zur Verfügung, und dies ist ihr Recht und ihre Pflicht. Die Menschen sollen sie hören und lesen und in ehrlicher Diskussion ihre moralischen Schlüsse ziehen. Die Politiker haben die Pflicht, diese Diskussion zu führen und die nötigen Entscheidungen zu treffen.

Die Diskussion über moralische Fragen ist in jeder Hinsicht eine andere Art von Diskussion als die erfahrungs-wissenschaftliche. Es handelt sich um einen anderen Diskurs, wie Habermas zeigt. Der US-Kongreß hat diese beiden Arten miteinander verwechselt.

Wenn die Politiker ihre Macht benutzen, um die Ergebnisse einer sorgfältigen Arbeit zu verdammen -- sicherlich ohne sie gelesen oder verstanden zu haben --, so ist dies das Ende der Wissenschaft, aber auch das Ende jeder richtigen Diskussion über Moral. Weil die meisten Berichterstatter die Studie nicht gelesen haben, dafür aber frei erfundene »Zitate« auftischten, hat die Öffentlichkeit keine Ahnung und kann kaum über die moralischen Implikationen reden.

Jeder hat die Ergebnisse sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit zu akzeptieren, solange nicht der Fortgang der Wissenschaft zu anderen Ergebnissen führt. Das Family Research Council (FRC) schrieb hingegen: »Wenn die Psychologie etwas als unschädlich betrachtet, was für unmoralisch gehalten wird, dann hat sie unseres Erachtens einfach nicht gut genug gearbeitet.« Das ist so ungefähr die Quintessenz der gemäßigten Kritik an Rind et al. Es ist zumindest kein persönlicher Angriff. Freilich ist es ein Angriff auf die Idee wissenschaftlicher Forschung schlechthin, bedeutet es doch, daß die Sozialwissenschaftler gefälligst so lange zu forschen haben, bis das Ergebnis mit den Vorurteilen der Öffentlichkeit übereinstimmt.

Es war einmal ein Forscher namens Galileo, der entdeckte einige Tatsachen über die Erde und die Sonne. Der Papst aber weigerte sich, diese Tatsachen anzuerkennen, und mit all seiner Macht -- mit Inquisition und Scheiterhaufen -- verurteilte er den Forscher. Jahrhunderte später hat die Kirche die Tatsachen eingesehen und Galileo, lange nach seinem Tode, rehabilitiert.

Die Aufgabe des Klinikers

Die Rolle des Klinikers ist in den drei Methoden, die ich beschrieben habe, unterschiedlich, wie ich es auch in meinem Schema darstelle. Bei der ersten Methode, »Behandlung«, ist der Kliniker »gesund, gut und normal«, während der Klient »krank, schlecht und deviant« ist. Alle diese Wörter haben eine moralische Bedeutung oder zumindest Konnotation. Darüber hinaus zielt der Kliniker auf »Steuerung« (control) und nutzt »Zwang«, und diese Wörter haben eine politische Bedeutung oder zumindest Konnotation.

Oben schrieb ich, meiner Meinung nach habe die Wissenschaft »die Aufgabe, die Tatsachen zu finden, dies ist ihr Recht und ihre Pflicht; die Presse soll die Öffentlichkeit richtig informieren, die Politiker sollen die Entscheidungsfindung in moralischen Fragen korrekt leiten.« Ich sehe also unterschiedliche Rollen für Wissenschaftler und Politiker. Ich kann aber auch die Rollen des Klinikers, der auch wissenschaftlich arbeitet, und derjenigen auseinanderhalten, die für Moral und politische Ausrichtung (political correctness) arbeiten. Mir scheint, der Anwender der »Behandlungs«-Methode kann das nicht. Damit ist er aber kein Kliniker und Wissenschaftler mehr, sondern ein Moralapostel.

Wie man in dem Schema sehen kann, haben die anderen Methoden ganz andere Rollenkonzepte und Menschenbilder.

Ich habe auch darauf hingewiesen, daß ein Wissenschaftler mit der Statistik arbeiten kann, der Kliniker, aber nicht ohne weiteres. Nehmen wir als ein Beispiel Hanson, der sagt, daß der Kontakt mit anderen Pädophilen die Rezidivneigung erhöht. Bleibt man im Rahmen dieser statistischen Betrachtung, so mag man folgern: »Klient, Du sollst keinen Kontakt mit anderen Klienten haben!« Wenn der Kliniker mit der ersten Methode arbeitet, so wird er, wie es heute häufig der Fall ist, solchen Kontakt verbieten. Er hätte sich aber zu fragen: welchen Kontakt zu welchen Pädophilen? Ein Club, der Pornographie tauscht, oder ein Unterstützungszirkel, der ethische Regeln entwickeln hilft? Bei der Selbsthilfemethode nützt es offenbar, wenn man offen mit anderen gleichermaßen betroffenen redet; eine Methode, die für schwangere Frauen und Eltern schwuler Kinder hilfreich zu sein scheint, genauso für Menschen mit Schönheitsproblemen oder eben solchen mit pädophilen Empfindungen.

Hat denn der Kliniker selbst keine Ethik? Doch, er hat seine eigenen moralischen Regeln und Leitsätze, die er überwiegend mit seinen Kollegen teilt. Bei der Selbsthilfemethode kann er diese Leitsätze in die Arbeit der Gruppe miteinbringen.

Ich habe ja schon gesagt, daß die Selbsthilfemethode als ein Ergebnis die Entwicklung eines ethischen Leitfadens gehabt hat. Lassen Sie uns nun diesen betrachten.

Ethik

Im Laufe der Jahre haben wir diesen Leitsätzen den Namen »Vier Prinzipien und ein Post scriptum« gegeben. Dies habe ich in meinem Aufsatz ``I didn't know how to deal with it'' genauso beschrieben wie die niederländischen Psychiater Gerard Roelofs und Frank van Ree, letzterer in seinem Artikel ``Intime Beziehungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen; Gibt es Kriterien für einen guten Kontakt?''. Hier sind diese Prinzipien, wie ich sie in meinem Artikel niedergeschrieben habe.

 

1. Selbstbestimmung:  
Kinder müssen immer über ihre eigene Sexualität und ihre Beziehungen zu anderen und ihr eigenes Leben entscheiden können.

2. Initiative:  
Auch in einer fortgeschrittenen Beziehung liegt die Initiative zu sexuellen Handlungen immer bei den Kindern.

3. Freiheit:  
Die Kinder sollen immer in der Lage sein, die Beziehung zu beenden (Abhängigkeit in sexueller Hinsicht würde ihre Freiheit beeinträchtigen). Liebe und Hingabe des Erwachsenen müssen unbedingt sein. Sex ist nie ein Tauschobjekt.

4. Offenheit:  
Das Kind sollte keine unangemessenen Geheimnisse mit sich herumschleppen müssen. Man muß darüber nachdenken, wie das Kind mit seiner eigenen Sexualität lebt. Diese Offenheit hängt zu einem Großteil davon ab, wie die Beziehung beschaffen ist, und wieviel Unterstützung die Erwachsenen geben.

 

P.S. Auch die örtlichen Sitten und Gebräuche spielen eine Rolle, denn nicht immer ist Offenheit über das kindliche Sexualleben erwünscht. Oft müssen Kinder ihre Sexualität insgeheim leben. Für viele ist Homosexualität ein großes Tabu; dies kann viele Probleme und Unsicherheiten mit sich bringen. Leben sie in einer Subkultur, die entspannt und stark genug ist, so können die Kinder darin Unterstützung finden.

So habe ich es in meinem Artikel geschrieben. Dann fuhr ich fort:

 

Ich stelle fest, daß ein Erwachsener die ersten drei Prinzipien realisieren kann: Selbstbestimmung, Initiative, Freiheit; aber was das vierte Prinzip, Offenheit, angeht, so bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß es als Konsequenz des heutigen moralischen Druckes nicht mehr zu realisieren ist. Nirgends ist Diskussion möglich. Unterstützung gibt es nur, von Kindesbeinen an, für Heterosexuelle, für Homosexuelle höchstens manchmal, ein bißchen, aber frühestens, wenn sie ältere Teenager oder junge Erwachsene sind.

Für pädosexuelle Beziehungen gibt es überhaupt keine Unterstützung, die der jüngere Partner erhalten könnte. Nicht in der Familie, nicht in der Schule, nicht auf dem Spielplatz, nicht in der Öffentlichkeit und nicht von jugendpsychologischen Einrichtungen.

Und nun ein noch ein Wort zu den Geheimnissen. Ein schönes Geheimnis besteht darin, daß man darüber reden könnte, es aber trotzdem für sich behält. Wenn man nicht darüber reden darf, ist es kein schönes Geheimnis mehr. Ich sehe, daß mindestens eines dieser vier Prinzipien nicht mehr realisierbar ist.

Der niederländische Psychiater Gerard Roelofs nennt mehr oder minder die gleichen Prinzipien -- ich habe in eckigen Klammern die Nummern der obigen Aufstellung zum Vergleich hinzugefügt. -- Er hat fünf Prinzipien für eine gesunde pädophile Beziehung entwickelt.

 

[1.] Es sollte keinen Zwang geben.

[2.] Das Kind sollte die Interaktion immer beenden können.

[3.] Drittens sollten die sexuellen Handlungen dem Entwicklungsstand des Kindes angemessen sein, wie es für zwölf- bis sechzehnjährige Jugendliche paßt. »Man kann an gegenseitige Masturbation denken, aber nicht an harte sado-masochistische Spiele«, sagt Roeloffs.

Die anderen Bedingungen sind nach Roelofs Meinung aber für die gegenwärtige Generation von Pädophilen kaum zu erfüllen, nämlich:

[4.] Die Eltern sollten von der Beziehung [unter Einschluß ihres sexuellen Aspektes] wissen.

[Noch 4.] Das Kind sollte in seiner Umgebung offen darüber reden können, ohne auf Ablehnung zu stoßen.

[P.S.] -- Mit diesen Bedingungen muß seine Meinung heute Theorie bleiben. »Gute Eltern« werden heute niemals eine sexuelle Beziehung ihres Kindes mit einem Erwachsenen erlauben. Dies mußte Roelofs selbst zugeben: »Aber in zwanzig Jahren könnte es solche Eltern vielleicht geben.«

Auch der niederländische Psychiater Frank van Ree bezeiht sich auf die vier Prinzipien:

1. Wer bestimmt? -- Das Kind sollte immer über seine eigene Sexualität entscheiden.

2. Initiative -- Die Initiative für sexuelle Handlungen sollte immer vom Kind ausgehen.

3. Freiheit -- Das Kind sollte immer die Freiheit haben, sich zurückzuziehen.

4. Offenheit -- Das Kind sollte nicht mit einem Geheimnis belastet werden.

» Hier ist nicht der Ort, diese Prinzipien zu besprechen, doch möchte ich zum Abschluß beim vierten, die Offenheit betreffend, einen Augenblick verweilen. Die Notwendigkeit ist an sich klar genug. Aber, wie Gieles selbst bemerkt: »es gibt keine Ort für eine Diskussion mehr [...] Ich denke, daß dieses vierte Kriterium nicht (mehr) erfüllt werden kann.« Und [Gieles] schließt mit den Worten: »Damit muß ich auf sexuelle Kontakte mit jungen Menschen verzichten.« Eine sehr moralische und respekteinflößende Schlußfolgerung, die auf einer realistischen Bestandsaufnahme der Situation aufbaut. Aber [...] diese Schlußfolgerung bedeutet auch, daß ein unerwünschtes Tabu respektiert und gestärkt wird!«

Mit diesem Tabu müssen unsre Klienten leben und ihren Weg finden. Praktisch kann ein Kliniker oder Berater seinen Klienten nur empfehlen, zölibatär zu leben. Die meisten tun es auch. Aber es gibt noch etwas. Man kann seine Wünsche sublimieren. Man kann seine Zeit mit Kindern in Freizeitaktivitäten verbringen, in Clubs, Erziehung und Pflege. Wenn man die Unterstützung einer Gruppe hat, so kann man es in einer verantwortbaren Weise. Deshalb wurden die Unterstützungszirkel auch ``circles of support and accountability'' genannt. Diese Möglichkeit zur Sublimierung wurde auch von Heather Peterson in ihrer Studie der virtuelle Unterstützungszirkel genannt. Desgleiche nennt der text Zur Notwendigkeit pädophiler Selbsthilfegruppen  diesen Prozeß des Wachsens in der Verantwortung.

Kliniker, die nach der ersten Methode (Behandlung) arbeiten, verbieten ihren Klienten in der Regel jeden weiteren Kontakt mit Kindern. Damit machen sie es ihnen auch unmöglich, ihre Wünsche und Gefühle in einer gesellschaftlich akzeptablen Weise auszuleben und zu sublimieren. Gewöhnlich verbieten sie auch den Kontakt zu andern Pädophilen. Damit verhindern sie auch deren Unterstützung. Zusammen schaffen sie damit Bedingungen, in denen sich womöglich der Druck im Klienten aufbaut, bis dieser ihm nicht mehr standhält. Das ist gefährlich und unethisch.

In meiner Sicht und aufgrund meiner Erfahrung aus zwanzig Jahren, sollte die erste Methode nur im Extremfall für Menschen, die sich nicht beherrschen können, gebraucht werden. Für viele andere sind die dritte Methode (eigentliche Therapie) und vor allem die zweite Methode -- Selbsthilfe -- geeignet, wirkliche und effektive Hilfe für Menschen mit pädophilen Empfindungen zu leisten.

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